04.10.2018
Andacht von Senior Dr. Matthias Rein zum 3. Oktober

Ansprache im Rahmen einer Andacht zum Tag der Deutschen Einheit in der Michaeliskirche in Erfurt.

Ansprache in der Andacht zum Tag der Deutschen Einheit  3. Oktober 2018 Evangelische Michaeliskirche Erfurt von Senior Dr. Matthias Rein
Am Abend versammeln sich alle auf der Wiese am See: Kinder mit nassen Haaren – sie kommen von der Badestelle. Zwei Väter mit ihren Söhnen – gerade von der Kanu-Tour heimgekehrt, sonnentrunken und müde. Die Familie mit den drei Kindern, eines davon mit geistiger Behinderung, die halbwüchsigen Jungen und Mädchen – sie unterbrechen ihr Volleyballspiel. Alle versammeln sich auf der Wiese am See.
Einer hat das Feuer entzündet, einer macht den Grillrost fertig. Alle bringen ihr Abendbrot mit. Brot und Salat und Fleisch zum Grillen. Die Bewohner aus der Behinderteneinrichtung von nebenan sind auch da. 30 Menschen sitzen in der Runde. Sie erzählen und lachen und essen. Der Betreuer hat seine Gitarre mitgebracht. Er singt gut und kennt viele Lieder.   Und ein Vater packt ein Horn aus. Er ist Hornist in der Staatskapelle Weimar. Am Nachmittag ist er mit seiner Familie angekommen, um eine Woche im Zelt am See zu verbringen. Und so entsteht an diesem Sommerabend am See ein Konzert für Gesang, Gitarre und Horn. Meine Frau und ich hören mit großer Freude zu. Nach dem Bad im stillen See geht der Liederabend zu Ende. „Adé nun zur guten Nacht“ und „Der Mond ist aufgegangen.“ Solches haben wir erlebt an einem Juliabend im vergangenen Sommer in der kleinen Siedlung Seewalde, gelegen auf einer Halbinsel in einem mecklenburgischen See. Da gibt es ein schönes Herrenhaus, dessen Wiederherstellung als Heim für Menschen mit geistiger Behinderung in Arbeit ist. Da gibt es eine Waldorfschule, einen Bauernhof, zweckmäßige und moderne Häuser für die Heimbewohner, eine Gärtnerei und einen Laden mit ökologischen Produkten und gutem Cappuccino. Und es gibt Platz für kleine und große Menschen am See. So einfach, so freundlich, so schön.

Unsere Gedanken gehen zurück. Im Sommer 1988 sind wir mit dem Faltboot über diesen See gefahren. Die DDR lag in ihren letzten Zügen, das ahnten wir damals nicht.   Wir trafen unverhofft auf Menschen, die am Olof-Palme-Friedensmarsch quer durch Europa teilnahmen. Wir liefen mit bis zur KZ-Gedenkstätte Ravensbrück. Das Kreuz wurde vorangetragen. Ein Marsch durch die DDR - Zeichen gegen den atomaren Rüstungswahnsinn, für Menschenrechte und Grenzenabbau.

Und nun – dreißig Jahre später in Seewalde. Der anthroposophische Verein Lauenstein aus Jena kam 1941 nach Seewalde. Er begann damals mit heilpädagogischer Arbeit für Kinder mit Förderbedarf, versteckt in diesem abgelegenen Ort. Es kamen Kinder aus dem zerbombten Berlin dazu. So überstanden sie das Chaos vom Mai 1945. Im Jahr 1949 wurden sie von der SED-Regierung vertrieben. Zu DDR-Zeiten wurden in Seewalde Kindergärtnerinnen ausgebildet. Die Schule war linientreu und politisch scharf. Seit 1990 sind die Anthroposophen zurück in Seewalde. Und sie gestalten diesen Ort.   Sie begleiten Menschen, die Hilfe brauchen. Sie bilden Kinder.

„Du sollst Gott lieben und den Nächsten wie dich selbst. Das ist das höchste Gebot.“ Und dazu: Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Das Wort aus der Bibel, Gebot für Juden und Christen, und der zentrale Grundsatz unserer Verfassung gehören zusammen. Nächstenliebe und der Respekt vor der Integrität des Nächsten, die Bereitschaft, dem Schwachen zu helfen, das gehört zusammen: Gottesgebot und Menschengebot.

Die kleine Siedlung Seewalde und ihre Bewohner erzählen von Nächstenliebe, von Respekt und Engagement, von innerer und äußerer Freiheit und von dem, was unser Zusammenleben trägt und schön macht. Das alles hat sehr viel mit Politik zu tun. Diese Geschichte hält vor Augen, was unser Leben schön macht, nämlich Liebe zu erfahren und Liebe zu geben. Sie hält vor Augen, wozu wir gerufen sind und wofür wir Verantwortung tragen in diesem Land, nämlich dafür zu sorgen, dass Menschen in Freiheit leben können, dass Menschen mit verschiedenen Begabungen und verschiedenen Grenzen gut zusammenleben können, dass Menschen, die anders sind, respektiert und geschätzt werden. Weil die Würde jedes Menschen, von Gott geschaffen, unantastbar ist.

Wie schön, dass es solche Orte wie Seewalde gibt in unserem Land, und für Ostdeutschland müssen wir auch sagen, dass es sie wieder gibt, seit 28 Jahren.

So haben wir gedacht, meine Frau und ich, als wir im Kanu an der Halbinsel Seewalde vorbeifuhren.

Der Liederabend auf der Wiese am See ging zu Ende mit der Liedzeile, die Matthias Claudius 1779 gedichtet hat:  „So legt euch denn ihr Brüder, in Gottes Namen nieder, kalt ist der Abendhauch.  Verschon uns, Gott, mit Strafen und lass uns ruhig schlafen und unsern kranken Nachbarn auch.“

Amen

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