08.11.2016
EKD-Synode: Europa in Solidarität

Von der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), die vom 6. bis 9. November in Magdeburg zusammentritt, soll ein Signal gegen Rechtspopulismus in Europa ausgehen. Die EKD-Synode hat als Schwerpunktthema Europa. Das Kirchenparlament befasst sich mit dem Thema in einer Zeit, in der es dem Kontinent nicht gutgeht: Griechenland-Probleme, Flüchtlingskrise, Brexit.
Dr. Martin Borowsky ist Richter am Landgericht Erfurt und Vizepräses der Kreissynode des Evangelischen Kirchenkreises Erfurt. Er war an der Grundrechte-Charta der EU beteiligt.
Für die Kirchenzeitung "Glaube + Heimat" schrieb er den folgenden Beitrag.

Die Dämonen, die die bisherige europäische Geschichte so unselig geprägt haben – und dies am schlimmsten im 20. Jahrhundert! –, warten auf ihre Zeit. Sie wegen irgendwelcher Fonds, Quoten oder Tarife zu vergessen, wäre ein tragischer Fehler.«

Diese Warnung Vaclav Havels steht wieder vor Augen, seit »Europa«, die Europäische Union, zu zerfallen droht, durch Brexit und rasenden Stillstand, unter dem Beifall der Terribles Simplificateurs, der schrecklichen Vereinfacher, der Populisten jedweder Couleur. Die vieux démons, die alten Dämonen Europas, sind erwacht, und das erste Mal in meinem Leben mache ich mir ernsthafte Sorgen um unser Europa, ja, um unsere demokratische, europäische Lebensweise. Der Bocksgesang des Nationalismus schwillt an, nicht nur in Ungarn und Polen, Tabus werden verletzt, der gesellschaftliche Diskurs verroht. Hasserfüllte Rechtspopulisten in Europa eint das Ziel, das europäische Einigungswerk zu zerstören, zugleich die Missachtung der jeweiligen Minderheiten.

Es gibt keine »Rückfallsperre«; die Errungenschaften des Integrationsprozesses können zunichtegemacht werden. Nach der Entscheidung zum Brexit schrieb das Pfarrerehepaar Tudge aus unserer Partnerdiözese Bradford in Yorkshire: »Viele sind erschüttert. Wir können den Hass gegen Europa nicht verstehen. Gott helfe uns! Bitte betet für uns; wir haben den Weg verloren.«

Wir Christen in Europa stehen in einer Bekenntnissituation. Anders als zur Zeit der Bekenntnissynode in Barmen – 1934 – geht die Gefahr heute nicht vom Staat aus, sondern von gesellschaftlichen Gruppierungen wie Pegida und Thügida, AfD oder Front National – und von Gleichgültigkeit, wenn nicht heimlichem Beifall im Bürgertum. Die Protestanten in Deutschland haben selbst einen »langen Weg nach Westen« – zur Anerkennung und Bejahung von Menschenrechten und Demokratie – hinter sich. Niemöller soll im Alter gesagt haben, er sei zeit seines Lebens kein Demokrat gewesen. Ihren Frieden mit der Demokratie schlossen die deutschen Protestanten erst 1985 mit der Denkschrift zur Demokratie.

Lange Zeit herrschte auch große Skepsis gegenüber dem europäischen Einigungswerk, das als römisch-rheinisches, katholisch inspiriertes Bestreben erschien und die deutsche Spaltung scheinbar besiegelte. Heute sind die maßgeblichen protestantischen Kirchen Europas auf der Grundlage der Leuenberger Konkordie aus 1973 in der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) vereint und wirken gemeinsam in dem »Mehrebenensystem« Europas mit.

Welchen Beitrag können Christen und Kirchen heute – in der Stunde der Gefahr – leisten? Zum einen gilt es, die Europäische Union, eine Rechts- und Wertegemeinschaft, schlicht vor dem Verfall zu bewahren. Tua res agitur! Europa, dieses schöne Friedensprojekt, geht uns alle unmittelbar an. Zum anderen lautet das Gebot der Stunde, endlich die gravierenden Defizite und Mängel der EU anzugehen, die derzeit viele Verlierer und wenige Gewinner produziert, vom Demokratiedefizit bis hin zur mangelnden Transparenz der europäischen
Entscheidungsprozesse. Es gilt zudem, die soziale Schieflage zu beseitigen, Europa nicht nur als (neo)liberales Projekt wahrzunehmen. Europa ist mehr als Macht, Markt und Geld. Die unter dem Leitbegriff »Solidarität« in der Grundrechtecharta versammelten sozialen Rechte mögen zur positiven Integration – zu einem Ausgleich zwischen Freiheit und Gleichheit – beitragen. Es gilt schließlich, das Potential der 2009 in Kraft getretenen Grundrechtecharta zu entfalten, zuvörderst Artikel 1 der Charta »Die Würde des Menschen ist unantastbar«. Die Grundrechte sind unteilbar und müssen allen Menschen zugutekommen, insbesondere den Schwachen und Schutzsuchenden.

Wir brauchen nicht weniger Europa, wir brauchen nicht Renationalisierungen und Zurückverlagerungen von Kompetenzen an die Mitgliedstaaten, sondern mehr Europa. »Mehr Europa wagen« heißt zugleich, ein besseres Europa wagen. Vertraut den neuen Wegen. En route, auf dem Weg zu einer Europäischen Republik!